30. Mai 2017

Als Augenzeuge in Syrien – Teil III

John Eibner von Christian Solidarity International (CSI) reiste seit Kriegsausbruch acht Mal nach Syrien, unter anderem nach Aleppo, Hasaka und Tartus. In einem dreiteiligen Interview berichtet er von seinen Eindrücken und formuliert Empfehlungen an die Schweizer Regierung.

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Teil III: Zwischen Auslöschung und Wiederaufbau – Die Situation der Christen und Alawiten

CSI: Im zweiten Teil des Interviews kritisierten Sie den Westen für seine Unterstützung der Rebellen. Die bewaffnete Opposition gegen Assad sei keineswegs moderat, sondern islamistisch und wolle einen Scharia-Staat, in dem Frauen, Homosexuelle, religiöse Minderheiten und moderate Sunniten diskriminiert und verfolgt würden. Hat die Religionszugehörigkeit demnach einen Einfluss auf den Entscheid auszuwandern?

Dr. John Eibner: Dazu habe ich keine Zahlen; ich kann nur meinen Eindruck schildern. Neben den etwa 75% Sunniten gibt es in Syrien zwei grosse Minderheiten, die vor 2011 jeweils etwa 10% der Bevölkerung ausmachten: Alawiten und Christen. Die Alawiten – eine alte religiöse Gruppierung, der auch Präsident Assad angehört – werden zwar von den sunnitischen Dschihadisten bedroht. Sie haben jedoch keinen naheliegenden Ort, an den sie flüchten könnten. Zudem haben sie Hochburgen in Tartus und Latakia und glauben, dass sie sich selbst verteidigen können. Soweit ich weiss, gibt es nicht viele Alawiten unter den Flüchtlingen in den Nachbarstaaten und in Europa.

Die andere grosse religiöse Minderheit sind die Christen. Viele von ihnen sehen schwarz, was ihre Zukunft als Christen im Nahen Osten betrifft. Ihre Furcht ist nicht unbegründet. Im Mai 2016 war ich in vier christlichen Dörfern am Fluss Chabur, die im Februar 2015 vom Islamischen Staat eingenommen worden waren und einige Monate später wieder befreit wurden. Insgesamt hat es dort über 30 christliche Dörfer, die alle von Überlebenden des Genozids von 1915 in der Türkei gegründet wurden. Für den Islamischen Staat hatte die Zerstörung der Kirchen hohe Priorität: Die Dschihadisten wissen, wie wichtig die Kirchen in dieser Region sind und dass ein Dorf ohne Kirche für die Christen kein Zuhause mehr ist. Viele der Dörfer sind wie ausgestorben. Es ist zu befürchten, dass es am Chabur bald keine Christen mehr gibt.

Wie steht es um die Christen in anderen Regionen Syriens?

Die vom Aussterben bedrohten Christen am Chabur gehören der Assyrischen Kirche des Ostens an. Für andere christliche Konfessionen – etwa die syrisch-orthodoxen Christen – besteht etwas mehr Hoffnung, zumal sie zahlreicher sind. Ein Beispiel ist Sadad: Im November 2015 gelang es in dieser vornehmlich syrisch-orthodoxen Stadt, einen Angriff des Islamischen Staats abzuwehren. Dieser Erfolg ist für die Leute ein Hoffnungsschimmer. Sie sagen, es sei das erste Mal gewesen, dass eine Offensive des Islamischen Staats ohne Luftunterstützung gestoppt werden konnte. Aber klar, das Leben ist hart. Meistens gibt es keinen Strom und die Preise sind hoch. Falls die Wirtschaftssanktionen andauern, könnten die Einwohner von Sadad über kurz oder lang gezwungen sein, Syrien zu verlassen – selbst wenn sie nicht direkt von Kämpfen bedroht sind. (Vgl. zu den Wirtschaftssanktionen Teil I des Interviews)

In den letzten Jahren eroberte die syrische Armee verschiedene Gebiete zurück. Gibt es Binnenflüchtlinge in Syrien, die in ihr Zuhause zurückkehren?

Ja, ein Beispiel ist die frühere Millionenstadt Homs, aus der die Rebellen im Mai 2014 abziehen mussten. Bereits während meiner ersten Reisen – noch vor dem endgültigen Abzug der Rebellen – kehrten die Leute in einige Teile von Homs zurück. Natürlich ist die Zerstörung enorm. Viele Gebäude müssen abgerissen und neu aufgebaut werden. Es gibt keine stabile Wasser- und Stromversorgung. Trotzdem kehren die Leute zurück, sogar Familien. Eine griechisch-orthodoxe Schule, zu deren Renovation Christian Solidarity International beigetragen hat, ist bereits wieder in Betrieb. Auch die DEZA macht in Homs eine sehr gute Arbeit und hilft Binnenflüchtlingen, in ihre Heimat zurückzukehren.

Fürchten sich die Leute in Homs denn nicht vor einer Rückkehr der Rebellen?

Homs ist zurzeit nicht unmittelbar bedroht. Mit einer einzigen Ausnahme konnten alle Stadtviertel von den Rebellen zurückerobert werden. Die Leute haben das Gefühl, dass die Regierung die Lage unter Kontrolle hat. Sie sind jedoch zu Recht besorgt über die längerfristige Zukunft. Sie wähnten sich ja auch in Sicherheit, als vor wenigen Jahren plötzlich die Aufstände begannen, die Rebellen Einzug hielten und die Dschihadisten kamen. Es gibt nach wie vor Bombenanschläge und Entführungen. Der Bruder meines Gastgebers wurde vor kurzem entführt und es fehlt jegliche Nachricht von ihm. Solche Vorkommnisse wecken natürlich Furcht und halten zweifellos manche Leute davon ab, nach Homs zurückzukehren. Wenn sie an einem anderen Ort in Sicherheit sind, entscheiden sie sich vielleicht dafür, noch abzuwarten.

Seit Monaten sind Friedensverhandlungen im Gang. Besteht Hoffnung, dass sie Frieden bringen?

Natürlich gibt es Hoffnung, aber es ist schwierig herauszufinden, ob die Beteiligten aufrichtig Frieden wollen. Wenn die USA und Russland wirklich zusammenarbeiten, werden die Gespräche erfolgreich sein. „Assad muss gehen“ kann keine Vorbedingung für produktive Gespräche sein. Der Westen muss sich zudem bewusst sein, dass die Rebellen von islamistischen Kräften dominiert werden und nichtislamistische Rebellen in der Opposition gegen Assad eine marginale Rolle spielen. Trotz des abschreckenden Beispiels der Muslimbrüder in Ägypten unterstützt der Westen jedoch seit Jahren die Dschihadisten im Kampf gegen Assad, liefert ihnen Waffen und Know-how. Das muss sofort aufhören.

Was kann die Schweiz für die syrische Bevölkerung tun?

  • Die Schweiz unterstützt die Friedensgespräche finanziell und personell. Sie sollte jetzt den Verlauf überwachen und öffentlich machen, wenn eine Partei die Gespräche nicht ernst nimmt.
  • Die Schweiz sollte ihre Hilfe gezielt auf die Binnenflüchtlinge in Syrien selber konzentrieren.
  • Die Schweiz sollte ihre Botschaft in Damaskus wiedereröffnen.
  • Die Schweiz sollte die Wirtschaftssanktionen aussetzen und unverzüglich ihre humanitären Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung überprüfen. Bestätigt sich der dringende Verdacht von CSI, dass darunter vor allem die syrische Bevölkerung leidet, sollte die Schweiz die Wirtschaftssanktionen aufheben und sich dafür einsetzen, dass dies auch die anderen Staaten tun.

Teil I: Unsere Sanktionen verschärfen die Flüchtlingskrise

Teil II: Pest oder Cholera – Assad für viele Syrer das kleinere Übel als die intoleranten Islamisten

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