Brief aus Aleppo: Inmitten des Leidens keimt Hoffnung auf

Neun Jahre Krieg, folgenschwere Wirtschaftssanktionen und die Corona-Pandemie haben Syriens zweitgrösste Stadt Aleppo in eine katastrophale Lage geführt, schreibt CSI-Projektpartner Nabil Antaki aus der gleichnamigen Stadt. Die Hilfsorganisation der «Blauen Maristen», die er mitgegründet hat, macht ihr Menschenmöglichstes, um das Leiden zu lindern und den Menschen Hoffnung zu geben.

Maristes-Bleus

Ein Lichtblick: In seinem neusten Brief aus der kriegsgebeutelten Stadt erwähnt Antaki auch, dass das CSI-Projekt «Heartmade» in Aleppo vor kurzem wieder in Angriff genommen wurde, nachdem es temporär sistiert werden musste. Das andere von CSI unterstützte Projekt «Job» wurde auch während des Lockdowns weitergeführt.

Erleichterung und Freude nur für kurze Zeit

Antaki schreibt in seinem Brief über einen Moment der Hoffnung, nachdem am 16. Februar 2020 die syrische Armee die Kontrolle über die Hauptverkehrsroute wiedererlangt hatte, welche Aleppo mit dem Rest von Syrien verbindet und die seit 2013 in den Händen von dschihadistischen Rebellen war. Die Armee befreite auch die westlichen Vorstädte, die seit 2012 von bewaffneten Rebellengruppen besetzt waren: «Am 16. Februar jubelten die Aleppiner, weil sie nach mehreren Kriegsjahren endlich ohne Angst vor einschlagenden Mörsergranaten schlafen konnten und auch wieder die Autobahn benutzen konnten, die Aleppo mit anderen syrischen Städten und dem Libanon verbindet.»

Die Menschen schöpften wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach neun Jahren Leid und Elend.

Doch die Hoffnung der Aleppiner währte kurz, wie aus Antakis Brief hervorgeht: «(…) kaum hatten sie Zeit, sich zu freuen und die Rückkehr in ein normales Leben zu geniessen, kam die Corona-Krise mit allen Präventivmassnahmen der Behörden zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus.» Diese Sicherheitsvorkehrungen hätten das soziale Leben gelähmt und die Wirtschaft, die langsam ins Rollen kommen sollte, gleich wieder zum Erliegen gebracht.

Ungebremste Inflation

Neun Jahre Krieg sowie die ungerechten und illegalen Wirtschaftssanktionen durch Europa und die USA haben die syrische Wirtschaft ruiniert. Wohl werde die humanitäre Hilfe durch die Sanktionen nicht tangiert. Doch sie verunmöglichen den Handel und den Import von Produkten, blockieren sämtliche Finanztransaktionen der syrischen Bevölkerung und verbieten alle Projekte für den Wiederaufbau, bemerkt Antaki.

Doch damit nicht genug. Durch den sogenannten «Caesar Act» haben die Amerikaner die Lage verschlimmert. Denn dadurch werden nun weltweit alle Unternehmen bestraft, die mit Syrien ins Geschäft kommen wollen. Für Antaki ist deshalb klar: «Diese Sanktionen stellen eine Art Kollektivbestrafung gegen eine Zivilgesellschaft dar.»

Die wirtschaftliche Lage in Syrien ist katastrophal. Als Folge der galoppierenden Inflation haben sich die Preise für Produkte des täglichen Bedarfs innerhalb von sechs Monaten verdreifacht. Vor dem Krieg war ein Dollar 50 syrische Pfund (LS) wert. Noch vor drei Monaten entsprachen 1000 LS einem Dollar, doch mittlerweile liegt der Gegenwert bei 2500 LS pro Dollar. «Die Menschen, die schon aufgrund der Kriegsjahre verarmt sind, haben ihre mageren Ersparnisse bereits ausgeschöpft und kommen nicht mehr über die Runden», stellt der Arzt aus Aleppo bedrückt fest.

Solidarität Cœurona

Mitten in dieser Misere unternehmen die «Blauen Maristen» alles, was in ihren Möglichkeiten steht, um das Leiden der Bevölkerung zu lindern und Hoffnung zu säen. Den Maristen wurde bewusst, dass viele ältere Leute in Aleppo völlig auf sich alleine gestellt sind, ohne jegliche Unterstützung. «Wir haben deshalb zu Beginn der Covid-19 Krise ein neues Projekt angestossen, das wir nennen (eine Anspielung auf frz. Coeur= Herz)

Seit drei Monaten kochen Frauen von den «Blauen Maristen» jeden Morgen eine warme Mahlzeit für 125 Personen. Unsere jungen Ehrenamtlichen verteilen die Mahlzeiten um die Mittagszeit an die Haushalte der Empfänger. Doch nebst dem Essen brauchen diese Leute auch menschliche Wärme, besondere Aufmerksamkeit und den Anblick von freundlich lächelnden Gesichtern, erklärt Nabil Antaki.

Die «Blauen Maristen» seien mit tragischen Schicksalen konfrontiert worden, die sie nicht für möglich gehalten hätten: Nabil Antaki bemerkt, wie sie immer wieder Menschen zwischen 80 und 95 Jahre begegneten, die alleine oder mit beeinträchtigten Kindern unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen. Sie erhalten keine Unterstützung, sind häufig krank und zuweilen auch ans Bett gebunden. Sie waren seit Jahren nicht mehr ausser Haus. Von Zeit zu Zeit erhalten sie Hilfe aus der Nachbarschaft oder von entfernt lebenden Verwandten.

Sistierte Projekte werden fortgesetzt

Als der Lockdown in Syrien in Kraft trat, mussten die «Blauen Maristen» zehn der 14 Projekte vorübergehend einstellen. Seit der Aufhebung der Einschränkungen Mitte Juni wurde die Arbeit in diesen Programmen wieder mit vollem Elan aufgenommen. Dies gilt auch für das von CSI unterstützte Projekt «Heartmade», bei dem aus Stoffresten einzigartige Frauenkleider hergestellt werden. «Heartmade», das von Nabils Frau Leyla geleitet wird, bietet zehn Frauen einen Arbeitsplatz.

Das andere, von CSI unterstützte Programm für Mikro-Projekte, «Job», konnte während des gesamten Lockdowns weitergeführt werden. «Job» besteht aus einem dreiwöchigen Intensivkurs, bei dem junge Menschen darauf vorbereitet werden, ein eigenes Geschäft aufzubauen. Von den mehreren Dutzend Absolventen haben bisher rund 20 Personen als Anerkennung für ihre Geschäftsideen eine finanzielle Unterstützung erhalten.

Wie alle Menschen in Syrien sind auch die «Blauen Maristen» müde und gezeichnet vom harten Leben in ihrem Land. Manchmal würden sie am liebsten das Handtuch werfen und aufgeben. «Wenn wir allerdings bedenken, wie die anderen jetzt mehr denn je unsere Anwesenheit nötig haben, unsere Unterstützung und unsere Hilfe, nehmen wir den Weg der seit neun Jahren währenden Solidarität mit neuer Kraft wieder auf. Und wir überlassen den Rest der Gnade Gottes», bekräftigt Nabil Antaki abschliessend.

Morven McLean, Reto Baliarda

Hier finden Sie den ungekürzten Brief von Nabil Antaki.

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