20. August 2018

Der Coiffeur aus Aleppo

Schwester Marie-Rose hat schon unzähligen Kriegsflüchtlingen in Syrien geholfen. Dabei ist sie selber Flüchtling. Ein Teil ihrer eindrücklichen Erlebnisse erschien dieses Jahr in Buchform. Im September kommt sie in die Schweiz.

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Auszug aus dem neuen Buch von Schwester Marie-Rose, «Der Friseur», S. 62-65.

«Von 1982 bis 1989 arbeitete ich in unserem Konvent in Aleppo, wo wir uns neben anderen pädagogischen und karitativen Aktivitäten um etwa 100 Kinder mit Behinderungen kümmerten.

Der Konvent befindet sich am Eingang zu einem Viertel namens Dschdeideh, einem Teil der Altstadt von Aleppo mit besonders schönen alten Plätzen und Gebäuden. An der Straße ins Zentrum, wo unser Konvent sich befand, reihten sich Möbelgeschäfte, alte Bibliotheken und alte Boutiquen aneinander, und während meiner Zeit dort schlossen ich und die beiden anderen Nonnen, mit denen ich zusammenarbeitete, mit allen Bewohnern in der Straße Freundschaft.

Gleich vor dem Tor des Konvents gab es einen kleinen, bescheidenen Friseursalon. Ahmad, der Besitzer, machte seinen Salon jeden Morgen um sechs Uhr auf und abends um sechs wieder zu.

Wenn ich morgens den Konvent verließ, sah ich ihn immer vor seinem Laden an einem kleinen Tisch sitzen, wo er seinen Morgenkaffee trank. Stets lächelte er und grüßte mich freundlich, wünschte mir einen schönen Tag und bot mir einen Kaffee an. Manchmal nahm ich die Einladung an und plauderte mit ihm über Alltagsdinge. Genauso freundlich war er zu den anderen Nonnen. So ging das all die sieben Jahre, die ich dort war, bis er aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken war.

Als ich 1990 nach Homs umzog, verabschiedete ich mich von ihm und all den anderen Nachbarn, die traurig waren, dass ich sie verlassen musste.

Im Jahr 2013 erfuhr ich, dass das Viertel, in dem der Konvent sich befindet, zur Frontlinie zwischen der Armee und den bewaffneten Gruppen geworden war, die den größten Teil der Altstadt erobert hatten. Ich hörte zudem, dass die ganze Gegend bereits schwere Schäden davongetragen hatte. Auch unser Konvent war betroffen.

Eine Gelegenheit, wieder nach Aleppo zu fahren, bekam ich erst Mitte Oktober 2015. Dabei konnte ich auch den Konvent besuchen, obwohl die allgemeine Situation in der Stadt nach wie vor nicht ungefährlich war. Ich ging direkt an meine alte Wirkungsstätte, und als Erstes sprangen mir die verheerenden Schäden auf beiden Seiten der Straße ins Auge. Alle Geschäfte waren zerstört, und die Straße lag voller Trümmer und Geröll. Am Tor des Konvents, das eingeschlagen war, stand eine Gruppe junger Soldaten, die das Gelände bewachen sollte. Ich ging hinein und fand das Obergeschoss völlig zerstört. Der Innenhof war mit Trümmern übersät, und die Habe des Konvents, die Möbel, das Geschirr, die Betten, war größtenteils gestohlen.

Als ich wieder herauskam, sah ich mich plötzlich einer Gruppe von Leuten gegenüber, die mich erwarteten, um mich in die Arme zu nehmen und mich zu fragen, wann wir zurückkehren würden. Es waren dieselben Nachbarn, die auch früher hier gelebt hatten. Sie waren gekommen, um nach ihren Häusern zu sehen. Ich schaute hinüber und sah, dass der Friseursalon offen stand. Er war völlig leer und wies Brandspuren auf. Als ich die Nachbarn nach Ahmad fragte, sagten sie mir, sie hätten ihn zwei Monate zuvor zuletzt gesehen. Er habe seinen Salon inspiziert und sei sehr wütend gewesen. Ansonsten wussten sie nur, dass er sich über Wasser hielt, indem er auf den Straßen Aleppos Zigaretten und Süssigkeiten verkaufte.

Am 12. Februar 2016 reiste ich im Auftrag unserer Mutter Oberin erneut nach Aleppo, um einige Fachleute mit der Schätzung der Schäden am Konvent und der möglichen Reparaturkosten zu beauftragen.

Gegen Mittag traf ich mit zwei Ingenieuren am Konvent ein. Als Erstes fiel mir auf, dass der Schutt auf der Straße inzwischen fast vollständig geräumt war, wenn auch die Läden immer noch schwer beschädigt waren. Die große Überraschung aber war, Ahmad inmitten all dieser Zerstörung vor seinem Salon anzutreffen. Er hatte sogar geöffnet, und innen war alles sauber und frisch gestrichen. Vor einem großen Spiegel standen zwei Frisierstühle.

Ahmad selbst saß wie gewohnt auf einem Hocker vor seinem Salon. Als er mich sah, sprang er auf, kam auf mich zu gerannt und umarmte mich weinend. Auch ich konnte mich der Tränen nicht erwehren. Für mich war das die schönste Überraschung seit vielen Jahren. Seine Haare waren inzwischen weiß geworden, doch seine Augen sprühten vor Entschlossenheit. Ich musste ihm versprechen, einen Kaffee mit ihm zu trinken, sobald die Begehung des Konvents mit den Ingenieuren hinter mir lag.

Nach dem Rundgang brachen die Ingenieure auf, und ich setzte mich zu Ahmad. Selten habe ich eine Tasse Kaffee mehr genossen! Er erzählte mir, dass er entschlossen gewesen war, seinen Laden wieder instand zu setzen. Das nötige Geld hatte er sich von einigen Freunden leihen können. Dann hatte er ganz allein alles repariert, die Wände gestrichen, die Stühle aufgestellt und einen kleinen Stromgenerator eingebaut. Ich erkundigte mich, ob er denn auch schon Kundschaft hätte. Bisher noch nicht viel, sagte er, aber das werde schon noch kommen. «Worauf es ankommt», sagte er, «ist, dass ich wieder hier bin!»

Und er hatte recht. Dass er wieder da war, gab mir ganz neue Hoffnung auf die Zukunft und die Zuversicht, dass das Leben trotz allem lebenswert ist.»

Buchauszug S. 62-65

 

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