23. Dezember 2013

«Entchristianisierung des Nahen Ostens»

Seit geraumer Zeit verbreitet sich im Nahen Osten ein radikaler Islamismus, unter dem religiöse Minderheiten keine Zukunft mehr sehen. Der Nahost- und Islamismusexperte Professor Bassam Tibi, selber gläubiger Muslim, warnt vor einer Entchristianisierung der Region.

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«Der sogenannte ‹Arabische Frühling› ist zu einem tödlichen Winter geworden», sagte Professor Bassam Tibi am 19.   November 2013 in Zürich. Im Rahmen der CSI-Vortragsreihe «Die Zukunft der religiösen Minderheiten im Nahen Osten» sprach Tibi über «Die Aufstände im Nahen Osten und das Schicksal religiöser Minderheiten in einem Scharia-Staat – Die Unterstützung der USA für islamistische Regierungen».

«Religionisierung» der arabischen Revolten

Die Hoffnung, dass die Staaten der arabischen Revolten einen Demokratisierungsschub erleben könnten, hat sich als trügerisch erwiesen. In den ersten Wochen der Proteste, die zum Machtwechsel in Ägypten führten, gingen zunächst die auf die Straße, die nichts zu verlieren hatten. Gezeichnet von Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit fanden sich junge Ägypter zusammen, die vor allem eins einte: Sie werden die «No-Future-Generation» genannt, eine Generation ohne Zukunft. Sie sind das Produkt einer Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten an vielen Orten im Nahen Osten beobachten ließ: Während die Bevölkerung enorm wuchs, konnte die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht Schritt halten. Die jungen Ägypter waren desillusioniert und wünschten sich Wandel, eine gemeinsame politische Vision für ein Ägypten nach Mubarak hatten sie jedoch nicht. In allen Ländern der arabischen Revolten war diese «No-Future-Generation» der Hauptträger der Proteste – bis die islamistischen Gruppierungen die Bühne betraten. Jahrzehntelang hatten sie sich im Untergrund verstecken müssen, wie die Muslimbruderschaft in Ägypten. Sie verfügten über ein effektives Netzwerk, waren gut organisiert und hatten vor allem ein Szenario für ein Post-Mubarak-Ägypten parat. «Die Islamisten haben den ‹Arabischen Frühling› an sich gerissen und ‹religionisiert›», sagte Tibi. Auf die wirtschaftlichen, sozialen und demografischen – im Grunde also säkularen – Probleme der Region propagierten sie eine religiöse Antwort: «Der Islam ist die Lösung» ist ein populäres Schlagwort geworden: Die Islamisten versuchen, aus dem Islam ein politisches Programm abzuleiten.

Islam versus Islamismus

Bassam Tibi, selber Muslim, kritisierte, dass die Begriffe Islam und Islamismus oft synonym verwendet oder ungenügend voneinander abgegrenzt werden. Dies verärgert nicht nur

viele moderate Muslime, es spiegelt auch eine radikale Islam- interpretation wider. «Islam ist der individuelle Glaube», betonte Tibi, «während Islamismus die politische Interpreta- tion von Koran und Scharia bedeutet.» Man müsse die ethische Dimension des Islam deutlich von den Versuchen abgrenzen, aus dem Islam eine politische Ordnung abzuleiten. Der Gedanke, Koran und Scharia als Drehbuch für politische Szenarien zu nutzen, ist keinesfalls neu. Hassan al-Banna, Gründer der Muslimbruderschaft, verhalf diesem Gedanken im 20.  Jahrhundert zum Durchbruch. Wenn die Scharia nicht als ethische Leitlinie für den einzelnen Muslim verwendet werde, sondern man auf der Scharia eine politische Ordnung gründe, hätten Demokratie und Menschenrechte aber keine Chance, betonte Tibi.

Tibi wies darauf hin, dass die Muslimbrüder mit Unterstützung aus dem Westen aufgestiegen seien. Er unterscheidet zwischen den «institutionellen Islamisten» auf der einen Seite, die sich zum Beispiel als politische Parteien organisieren und die institutionellen Strukturen ihres Landes akzeptieren. Die «Dschihadisten» auf der anderen Seite sind meist Untergrundorganisationen wie die al-Qaida und nutzen Terror und Gewalt, um politische Ziele durchzusetzen. Im Kampf gegen diese dschihadistischen Gruppen sahen die USA und ein großer Teil Westeuropas die institutionellen Islamisten als die besten Verbündeten.

Entchristianisierung des Nahen Ostens

Der zunehmende Einfluss islamistischer Gruppen sei für alle Befürworter einer Demokratie und für religiöse Minderheiten eine Katastrophe. Die gegenwärtigen Umstände beunruhigten ihn sehr, sagte Tibi: «Wir können im Nahen Osten klar eine Entchristianisierung beobachten.» Die Christen verlassen nicht nur den Irak, wo seit dem Sturz Saddam Husseins mehr als die Hälfte von ihnen aus dem Land flüchten musste, sondern auch Ägypten, den Libanon und Tibis Heimat Syrien. Der radikale Islamismus lasse keinen Raum für Minderheitenreligionen. Während in weiten Teilen der muslimischen Welt Christen und Juden als Angehörige der «Buchreligionen» (ahl al-kitab), innerhalb eines gewissen Rahmens geschützt werden, betrachten viele Islamisten sie als Ungläubige (kuffar).

Wie sich diese Sichtweise auswirken kann, zeigte sich im August 2013 an den antichristlichen Pogromen in Ägypten, als mehr als 80 Kirchen verbrannt und zahlreiche kirchliche Einrichtungen, Wohnhäuser und Geschäfte von Christen zerstört wurden. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die man alleine aus dem letzten Jahr nennen könnte, so Professor Tibi.

Autor Luise Fast

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