Nach den Wahlen: «Minderheiten haben Angst»

Es waren die grössten Wahlen der Weltgeschichte: 900 Millionen Stimmbürger durften wählen. Die regierenden Hindunationalisten gewannen überraschend noch deutlicher als 2014 – keine gute Nachricht für religiöse Minderheiten, sagt die CSI-Informantin Anita im Interview.

ind190903prv

CSI: Die grössten Wahlen der Welt sind Geschichte. Eine Million Wahllokale wurden für die rund 900 Millionen Stimmberechtigten eingerichtet. Wie haben Sie persönlich den Wahltag erlebt?

Anita*: Das Land war in sieben Zonen und sieben Zeitabschnitte unterteilt. Delhi wählte am 12. Mai. Es war ein Sonntag, ein freier Tag und somit einfach für die Leute, zum Wahllokal zu gehen. Ich ging mit meinem Mann zu unserem Wahllokal. Zu dieser Zeit, etwa um 14.30 Uhr, hatte es nur sehr wenige Leute und wir nahmen an, dass die Stimmbeteiligung sehr gering sein würde. Laut offiziellen Zahlen nahmen dann doch 60 % der Wahlberechtigten ihr Wahlrecht wahr. Es war sehr friedlich; wir sahen keine Gewalt.

Haben Sie Unterschiede zu den letzten Parlamentswahlen von 2014 festgestellt?

Mir fiel auf, dass es kaum Wahlkampagnen gab. Der Wahlkampf wurde vor allem im Internet, auf Social Media, geführt. Im Gegensatz zu früheren Wahlen schienen die Leute die lokalen Kandidierenden kaum zu kennen. Sie wussten einfach: Wir wählen Narendra Modi und die BJP, seine Partei.

Waren die Menschen denn so glücklich mit der Lage in Indien, dass sie Modi wiederwählen wollten?

Das Ergebnis hat uns sehr überrascht. Während Modis fünfjähriger Amtszeit gab es eine massive Geldentwertung, hohe Arbeitslosigkeit und eine Steuerreform, die jeden einzelnen stark belastet und kleine Unternehmen vernichtet hat.

Wir waren der Meinung, dass die Leute einen Wandel wollten und nicht für Modi stimmen würden. Im Dezember 2018 gewann die Kongresspartei die Wahlen in drei wichtigen Bundesstaaten (Chhattisgarh, Rajasthan und Madhya Pradesh). Die Meinung war weit verbreitet, dass wir eine Art Koalitionsregierung oder eine Regierung der Kongresspartei haben würden.

Dann kam der Streit mit Pakistan.

Genau. Die kriegsähnliche Situation zwischen Indien und Pakistan im Februar 2019, nur wenige Wochen vor den Wahlen, veränderte das ganze Szenario. Viele Inder sind sehr emotional, was die Religion und Pakistan betrifft. Modi spielte mit diesen Emotionen und machte die nationale Sicherheit zum Hauptthema. So kam der Nationalismus ins Spiel. Der Zeitpunkt war überaus günstig gewählt. Die Leute sahen, wie Modi gegen Pakistan vorging, und das half ihm sehr.

Die Hindunationalisten kontrollieren nun fast zwei Drittel der Sitze. Welche Folgen sehen Sie für die religiösen Minderheiten?

Alle religiösen Minderheiten haben sehr grosse Angst. Mit Amit Shah wurde ein wichtiger Stratege der BJP Innenminister. In seinem Wahlkampf bezeichnete er Nicht-Hindus als «Parasiten» und kündigte an, sie zu beseitigen. Diese Aussage hat grosse Verunsicherung und Angst verursacht.

Gibt es deutliche Worte von indischen Kirchen?

Niemand sagt etwas, alle haben Angst. Die christlichen Leiter hätten zusammenkommen und eine Strategie erarbeiten sollen für den Fall, dass Modi gewählt wird. Wir hätten für die Wiederwahl gerüstet sein müssen. Uns fehlen strategische Thinktanks und Analysen. Wir reagieren erst, wenn etwas passiert. Aber warum warten, bis etwas passiert?

Wir sind in Gefahr. Wir brauchen Führungskräfte, Menschen, die Strategien entwickeln und sich in ökumenischen Leitungsgremien auf nationaler Ebene absprechen. Wir müssen besprechen, was getan werden kann, wenn wir keinen Rückhalt in der Regierung haben. Adrian Hartmann | Morven McLean

 

Interview mit Anita auf Radio Lifechannel: https://bit.ly/2Y4RVQy

 

* Name geändert

 


Wahlen in Indien

Das indische Parlament besteht wie das schweizerische Parlament aus zwei Kammern: der Rajya Sabha mit den Bundesstaats-Abgeordneten und der Lok Sabha mit 545 Volks-Abgeordneten. Letztere werden alle fünf Jahre vom Stimmvolk gewählt, zuletzt 2019. Gewählt wurde vom 11. April bis zum 19. Mai 2019.

Die hindunationalistische Partei Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi legte weiter zu (neu 303 Sitze), nachdem sie bereits 2014 die absolute Mehrheit in der Lok Sabha gewonnen hatte (282 Sitze). Zusammen mit Verbündeten kontrolliert die BJP neu fast zwei Drittel der Sitze in der Lok Sabha (353). Die zweitstärkste Partei, die Indische Kongresspartei, die das Land während Jahrzehnten regierte, erreichte nicht einmal 10 % aller Sitze (52).

In der Rajya Sabha ist die BJP mit ihren Verbündeten ebenfalls stark, erreicht jedoch die absolute Mehrheit nicht.

 

Ihr Kommentar zum Artikel

Wir freuen uns, wenn Sie hierzu eine Rückmeldung oder Ergänzung haben. Themenfremde, beschimpfende oder respektlose Kommentare werden gelöscht.


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.

Kommentar erfolgreich abgesendet.

Der Kommentar wurde erfolgreich abgesendet, sobald er von einem Administrator verifiziert wurde, wird er hier angezeigt.