23. Juni 2018

Nach monatelanger Flucht auf der Suche nach neuen Perspektiven

Die Familie von Linus Kamba wohnte in einem Gebiet im Nordosten, in dem Christen die Mehrheit bildeten. Dennoch wurde sie von Muslimen benachteiligt und musste vor der Terrormiliz Boko Haram flüchten. Die Familie fand im christlichen Flüchtlingslager von Jos Unterschlupf.

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Die CSI-Vertreter treffen Linus im Flüchtlingslager der CSI-Partner Stefanos Foundation in Jos. Der ehemalige Geschäftsmann aus dem Nordosten Nigerias erscheint elegant gekleidet im weißen Hemd. Ihm ist es wichtig, auch in der demütigenden Lage als Flüchtling seine Würde zu wahren. In gutem Englisch berichtet Linus über seine Herkunft und wie es dazu kam, dass er schließlich in diesem Flüchtlingscamp landete.

Christliche Mehrheit – Muslimische Unterdrückung

Linus Kamba stammt aus Pulka, einer Kleinstadt im Distrikt Gwoza (Borno) im Nordosten Nigerias. Nur zirka acht Kilometer davon entfernt befindet sich der Sambisa-Wald, ein riesiges Naturreservat, das Boko Haram als Rückzugsort missbraucht. In Pulka war Linus ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er liebte seinen Beruf, genauso wie seine Heimat: «Zuhause ist es einfach am schönsten», bekennt er.

Der Distrikt Gwoza ist bezüglich Religionszugehörigkeit untypisch für den Norden Nigerias. Über 70 Prozent der Bewohner sind Christen, erklärt Linus. Trotzdem gilt auch hier wie im ganzen Bundesstaat Borno die Scharia. Dementsprechend sei der Distriktsvorsteher immer ein Muslim gewesen. «Wir Christen wurden politisch und wirtschaftlich immer benachteiligt. Auch auf dem Arbeitsmarkt bevorzugte man Muslime.»

Auch wenn Christen in Pulka häufig wie Bürger zweiter Klasse behandelt wurden, lebten sie lange Zeit in Frieden mit den muslimischen Nachbarn. Linus erinnert sich: «Ich hatte einen muslimischen Freund, mit dem ich gerne Fußball spielte und über die Islamisten von Boko Haram witzelte.»

Zunehmende Drohung der Extremisten

Das friedliche Nebeneinander zwischen Christen und Muslimen erfuhr einen ersten Dämpfer, als Anfang 2013 in Pulka Plakate in arabischer Schrift an Häusern und Zäunen aufgehängt wurde. Muslimische Übersetzer teilten den Christen die Botschaft auf den Plakaten mit: Die Christen dürften nicht mehr zu ihren Weiden und Feldern gehen. «Einige wagten es trotzdem. Wir haben sie nie wieder gesehen», berichtet Linus mit betrübter Stimme. Nur wenig später verübte Boko Haram den ersten Überfall auf Pulka und zwang alle Christen mit vorgehaltener Waffe zur Herausgabe ihres Viehs. «Es waren über 2500 Kühe, die die Islamisten zum Sambisa-Wald trieben.»

Bald folgte die nächste Plakat-Serie mit einer weiteren Drohung auf Arabisch. Nun wurde es den Christen verboten, den Markt zu besuchen. Linus begann zu verzweifeln: «Mir kam es vor, als ob Pulka vom Tier aus der Offenbarung heimgesucht würde.» Und es war nur eine Frage der Zeit, bis neue Plakate mit einer noch heftigeren Drohbotschaft die christliche Mehrheit in Angst und Schrecken versetzten. Nun wurden alle Christen und auch Armeeangehörige aufgefordert, Pulka zu verlassen. Andernfalls würde es Konsequenzen haben.

Was aber war aus dem muslimischen Freund von Linus geworden, mit dem er noch vor kurzem über Boko Haram gescherzt hatte? «Ich sah von weitem, wie er im Kampfanzug der Terrormiliz nach mir suchte.» An jenem schrecklichen Tag musste Linus noch erfahren, dass sieben christliche Mädchen auf dem Weg nach Gwoza entführt wurden.

Vor lauter Angst vor einem Überfall konnten Linus und seine Familie in den darauf folgenden Nächten kein Auge schließen. Besonders zermürbend war für sie die fehlende Unterstützung von den wenigen Soldaten, die noch in Pulka geblieben waren. Sie hätten keinen Auftrag, die Christen zu beschützen, lautete ihre fadenscheinige Begründung.

Flucht nach Verteidigung

Mit vereinten Kräften versuchte die christliche Gemeinschaft, eine Dorfwehr aufzubauen. Doch außer Pfeil und Bogen besaßen sie keine Waffen, mit denen sie sich hätten verteidigen können. Einen ersten Angriff durch muslimische Kämpfer konnten sie noch abwehren. «Sie hatten versucht, unsere Kirche anzuzünden, was wir gemeinsam verhindern konnten», so Linus. Doch nur wenige Tage darauf stürmte Boko Haram Pulka mit Unterstützung von ausländischen Terroristen. Diesesmal waren sie mit Gewehren und Granaten schwer bewaffnet und überrannten den Ort. «Wir flohen Hals über Kopf auf die naheliegenden Hügel. Das hat unser Leben gerettet.»

Da es in der Wildnis draußen kaum etwas zu essen gab, kehrten die Frauen nach Pulka zurück, um Nahrungsmittel zu besorgen. Dieses Unterfangen erwies sich jedoch als sehr riskant: Vier Frauen wurden von Boko Haram gefangen genommen und in den Sambisa-Wald entführt.

Irgendwann wurde auch das Versteck in den Hügeln zu gefährlich, sodass Linus mit seiner Familie und tausenden weiteren Geflüchteten am 23. August 2014 nach Kamerun floh. Doch wegen einer Cholera-Epidemie, der 150 Kinder zum Opfer fielen, kehrten die vertriebenen Christen nach Nigeria zurück. Linus zog mit seiner Familie nach Mubi, einer Stadt im Norden des Staates Adamawa. «Der Weg dorthin war vor allem deshalb so anstrengend, weil alle meine acht Kinder krank waren», erinnert er sich.

Der Geschäftsmann, der auch auf der Flucht immer wieder an sein Erwerbsleben dachte, fand in der Großstadt Lagos ganz im Südwesten Nigerias eine Arbeitsstelle. Die Familie blieb im vermeintlich sicheren Mubi. Doch als Linus im November die Familie besuchte, wurde auch Mubi von Boko Haram überrannt (die Rückeroberung durch die Armee erfolgte zwei Wochen später), so dass sie alle wieder nach Kamerun flüchten mussten. Sie kamen dort in einem Lager unter und zogen nach zwei Wochen weiter in die nordnigerianische Stadt Yola. «Doch auch dort war es für uns Christen unsicher», bemerkt Linus, der mittlerweile durch seine fluchtbedingte Absenz seine Arbeit in Lagos verloren hatte.

Endlich in Sicherheit

In Yola erfuhr die Familie vom Flüchtlingslager in Jos, das für Christen sicher sei. Während seine Frau und die Kinder ins Camp der CSI-Partner Stefanos Foundation weiterflohen, machte sich Linus alleine nach Maiduguri auf, um Arbeit zu finden. In dieser Großstadt ganz im Nordosten verübt Boko Haram immer wieder Terroranschläge. Linus fühlte sich hier deshalb sehr unwohl und ließ sich im Telefongespräch mit seiner Frau davon überzeugen, nach Jos zu kommen.

Am 30. Dezember 2014 erreichte Linus das Flüchtlingslager von Jos, das CSI unterstützt. «Als ich hier ankam, sah ich die Reis- und Maissäcke, die die Stefanos Foundation den geflüchteten Bewohnern gab. So erlebte ich meine Ankunft als eine Gebetserhörung. Ich bin auch den Spendern von CSI dankbar, die uns die Bewirtschaftung eines landwirtschaftlichen Grundstücks ermöglicht haben», lässt Linus ein Lächeln aufblitzen.

Doch zugleich sieht sich der tüchtige Mann mit vielen Herausforderungen konfrontiert. «Meine Kinder werden größer. Ich will ihnen unbedingt eine gute Ausbildung ermöglichen, aber wie denn? Ich will meine Zeit nicht verschwenden und möchte selbst eine Ausbildung als Buchhalter absolvieren. Das sollte doch möglich sein! Ich bin Bürger von Nigeria!»

Reto Baliarda

 

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