11. September 2014

Sie werden gehasst – CSI hilft Christen und Jesiden

CSI besuchte Ende August 2014 christliche und jesidische Flüchtlinge im Nordirak. Die meisten haben nur noch die Kleider, die sie am Leib tragen. Sie haben allen Mut verloren und sind auf Hilfe angewiesen. Über 1000 Familien bekamen Lebensmittel und Hygieneartikel.

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«Das Christentum wird aus dem Nahen Osten ganz verschwinden», sagt William Warda, Präsident unserer irakischen Partnerorganisation Hammurabi, als John Eibner und ich ihn Ende August 2014 in Erbil treffen. Die Hoffnungslosigkeit in dieser kurdischen Stadt im Nordirak ist gross. Im christlichen Stadtteil Ankawa gibt es über 20 Flüchtlingslager. Weitere Flüchtlinge wohnen bei Verwandten oder wohltätigen Christen. Nicht selten sind 20 oder noch mehr Menschen in einer Wohnung zusammengedrängt.

Mehrere hunderttausend Menschen – viele von ihnen Christen und Jesiden – sind vor den Kämpfern der islamistischen Terrormiliz IS (Islamischer Staat) ins Kurdengebiet im Nordirak geflohen. Wir treffen keinen einzigen Flüchtling, der hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Alle wollen auswandern. Selbst Leute, die uns früher sagten, sie wollten den Irak auf keinen Fall verlassen, haben keinen Mut mehr und wollen nur noch weg.

Einfach wird das nicht: Die meisten Flüchtlinge mussten ihr Zuhause Hals über Kopf verlassen. «Ich hatte fünf Minuten Zeit, um zu verschwinden», sagt uns ein Priester aus Karakosch. Bei der hastigen Flucht war nicht an Pass, Geburtsurkunde und andere wichtige Papiere zu denken. Nun stehen viele Flüchtlinge mit leeren Händen da. Ob sie je zurückkehren können? Ob das Haus noch steht? Ob alles geplündert wurde? Die meisten haben keine Antwort auf diese Fragen, da sie keinen Kontakt mehr in die Heimat haben.

Was mich besonders erschüttert: Viele sunnitische Nachbarn, mit denen die Flüchtlinge seit Jahrzehnten zusammenlebten, machen mit IS gemeinsame Sache. Manche waren beteiligt, als die Christen vertrieben wurden, und plünderten anschliessend ihre Häuser.

Tausende Jesiden getötet

In einer besonders katastrophalen Lage sind die Jesiden (siehe Kasten ganz unten). Während IS die Christen als Kuffar (Ungläubige) zu Hunderttausenden verjagte und ihnen an Checkpoints die letzten Habseligkeiten abnahm – so sie denn welche bei sich hatten –, geht es bei den Jesiden ums nackte Überleben. Sie werden als Teufelsanbeter betrachtet und deshalb buchstäblich abgeschlachtet. Nach Angaben eines jesidischen Scheichs wurden inzwischen mehrere tausend Jesiden getötet. Frauen werden entführt, zwangsislamisiert, vergewaltigt, verkauft. Für eine Hunderternote bekommt man heute in der syrischen Provinz Raqqa eine Jesidin aus dem Irak, erzählt uns ein lokaler Menschenrechtsexperte.

Auf dem Weg von Dohuk nach Zakho sehen wir zahlreiche Hochhäuser im Rohbau. Auf den untersten Etagen haben sich häufig jesidische Flüchtlinge notdürftig einquartiert. Wir fahren mit dem Scheich an einem riesigen UNO-Flüchtlingslager vorbei, in dem mehrere zehntausend Jesiden Unterschlupf gefunden haben. Selbst hier werden sie von Muslimen bedrängt, sagt der Scheich. Solidarität von muslimischer Seite gebe es nicht, stattdessen Spott: «Muslimische Autofahrer halten beim Flüchtlingslager an, machen sich lustig über am Strassenrand sitzende Jesiden und fordern sie auf, zum Islam zu konvertieren.»

Während Christen von ihren Kirchen, CSI und anderen christlichen Hilfsorganisationen unterstützt werden, haben Jesiden keine vergleichbaren Institutionen, an die sich wenden könnten. Wir und die Vertreter von Hammurabi sind so betroffen, dass wir beschliessen, einen Teil der Hilfe jesidischen Familien zu bringen.

Sieben jesidische Familien, bestehend aus 48 Personen, wohnen in einem einzigen Zelt im Staub. An einem andern Ort teilen sich acht Familien, 53 Personen, ein einziges Schulzimmer. Wir gehen zu Fuss weiter in Richtung eines Spitals, das nicht mehr in Betrieb ist. Tieftraurige Menschen sitzen am Boden und blicken uns hoffnungslos entgegen. Elf Familien schlafen hier auf dem Betonboden. Der Besitzer des ehemaligen Spitals weigert sich, das Gebäude für die Flüchtlinge zu öffnen – er brauche es als Lagerhaus. Die jesidischen Flüchtlinge leben seit etwa drei Wochen hier. Von der UNO bekamen sie für zwei Tage zu essen – seither haben sie keine Hilfe mehr erhalten. Andere jesidische Familien wohnen in einem Schafstall, die Kinder werden von Ungeziefer geplagt.

Auf dem Rückweg zum Auto nimmt mich ein junger Jeside beiseite: «Könnt ihr uns helfen?», fragt er. Er spricht gut Englisch, hat in Mosul Anglistik studiert. «Es verging kein Tag, an dem mich nicht einer meiner Mitstudenten hänselte, weil ich Jeside bin, und mich aufforderte, zum Islam überzutreten.» Wir helfen mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln. Und dann stellt mir der junge Mann die wohl wichtigste Frage, die uns auch andere Flüchtlinge stellten, aber die mir aus seinem Mund besonders in Erinnerung bleibt: «Glaubst du, dass wir eine Zukunft haben im Irak?» Ich weiss es nicht. Ich hoffe es. Nun gilt es zuerst einmal, den Winter zu überstehen. In den Bergen Kurdistans kann es eisig kalt werden, und wenn es regnet, sind Flüchtlinge ohne Obdach erst recht in einer bemitleidenswerten Lage.

Autor: Adrian Hartmann


Wer sind die Jesiden?

Die Jesiden sind eine alte ethnoreligiöse Minderheit, die hauptsächlich im Norden des Irak, in Syrien, der südöstlichen Türkei und im Iran leben. Die Jesiden bleiben meist unter sich und üben ihren Glauben im Normalfall nicht vor Andersgläubigen aus; auch kann man nicht zum Jesidentum konvertieren. In ihren Ritualen mischen sich Einflüsse von Christentum, Islam und Judentum sowie von den antiken persischen Religionen. Als Angehörige einer monotheistischen Religion glauben die Jesiden an einen einzigen Gott, der die Führung der Welt sieben Engeln übertrug. Einer der sieben Engel fiel, ihm wurde jedoch vergeben; er spielt eine zentrale Rolle in der Glaubenspraxis. Diesen gefallenen Engel setzten Muslime und Christen häufig mit Satan gleich, weshalb die Jesiden immer wieder als «Teufelsanbeter» galten und als solche stark verfolgt wurden – und werden.

Bis zu 700 000 Jesiden soll es weltweit geben. Seit dem Eroberungszug der radikalen Dschihadisten des Islamischen Staats im Norden des Iraks und in Syrien wurden bei Massakern und durch Fluchtstrapazen mehrere tausend Jesiden getötet, darunter viele Kinder. 130 000 Bewohner der jesidischen Stadt Sindschar konnten in die kurdischen Gebiete fliehen. Anfang August 2014 wurden etwa 40 000 flüchtende Jesiden in den Bergen von Dschihadisten eingekesselt und mussten tagelang ohne Nahrung ausharren, bevor sie befreit werden konnten. Ausserhalb des Nahen Ostens leben die meisten Jesiden in Deutschland: etwa 50 000. In der Schweiz sind es einige hundert.

Appell von Pater Gabriel aus dem St.-Maria-Kloster in Alqosh

«Wir Iraker lieben das Leben. Wir wollen in unserem Land leben, genau wie der Rest der Welt in seinem jeweiligen Land in Frieden und Sicherheit leben will. Wir wollen keine weiteren Konflikte, keine weiteren Kriege. Wir haben genug von der Zerstörung. Die irakische Regierung ist nicht in der Lage, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Ich rufe den Westen, der diesen Krieg gegen den Irak begonnen hat, dazu auf, ihn friedlich zu beenden. […]

Die ganze Welt soll mithelfen, die Minderheiten des Irak, ja die gesamte Zivilisation, die Existenz des Iraks zu beschützen. Wir sind keine Ausländer in unserem Land und wir wollen unser Land auch nicht verlassen. Das ist unser Land und wir wollen hier in Frieden leben. Wenn die Welt jetzt untätig bleibt, werden wir mit Sicherheit unser Leben, unseren Boden und unser Land verlieren, und wir werden auf der ganzen Welt heimatlos sein.
Danke für Euren Besuch.»


Diese Hilfe bringt CSI irakischen Flüchtlingen

In einer zweiwöchigen Aktion im August/September konnten wir über 1000 bedürftigen Flüchtlingsfamilien – Jesiden und Christen – Lebensmittel und Hygieneartikel im Wert von jeweils etwa 35 Franken bringen. Die dringend nötigen Hilfsaktionen laufen über unsere Partnerorganisation Hammurabi weiter. In einigen Wochen werden wir mit der Verteilung von Decken, warmer Kleidung und Kerosinöfen beginnen müssen. Im laufenden Jahr hat CSI bisher etwa 200 000 Franken für den Irak eingesetzt.

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