23. April 2019

Trügerische Ruhe – Hunderttausende in Not

Am 18. April 2018 begann in Nicaragua eine neue Ära, eine Ära der Brutalität, Unterdrückung, Angst und unbeschreiblichen Leids. CSI war kürzlich in Nicaragua, hat mit den Menschen über die schwierige Situation gesprochen und Hilfe gebracht.

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Niemand hatte je erwartet, dass der sandinistische Präsident Daniel Ortega mit solcher Brutalität auf friedliche Demonstrationen reagieren würde. Über Jahre kämpfte er als hochgeachteter Oppositionsführer der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront gegen den antikommunistischen Somoza-Clan. 1979 befreite er das unterdrückte Volk von dem Diktator Anastasio Somoza. Lange galt Ortega als Retter und Held der Nation.

Früher geschätzt – heute gefürchtet

Der einst sehr geschätzte und respektierte Anführer der Linken, seit 2006 Staatspräsident von Nicaragua, wandelte sich im Laufe der Zeit in einen selbstgerechten Despoten. «Der Ortega von heute ist nicht mehr derselbe, dem wir in den 70er und 80er Jahren voller Hingabe und Respekt gefolgt sind. Die Werte Gleichheit und Brüderlichkeit, für die er einst mit seinem Leben eingestanden ist, hat er fallengelassen und lässt sich von Macht- und Habgier beherrschen», so ein ehemaliger, zutiefst enttäuschter Ortega-Anhänger.

Wie ihm geht es vielen Sandinisten. Das Volk von Nicaragua steht unter Schock. Das Vertrauen in den Präsidenten ist zerbrochen. Nicaragua verzeichnet seit dem letzten Jahr Tausende von Verschwundenen, unzählige Verletzte und mehr als 540 Tote. Zehntausende sind ins Ausland geflüchtet, vor allem ins Nachbarland Costa Rica.

Willkürliche Schüsse auf Zivilisten

Die Gewaltwelle begann am 18. April 2018, als Ortega auf friedliche Demonstranten schießen ließ, die gegen Kürzungen bei den Sozialleistungen demonstrierten. In den folgenden Wochen begannen schwerbewaffnete Paramilitärs durch die Straßen zu patrouillieren, verhörten, verschleppten, verwundeten oder töteten sogar, wer immer ihnen verdächtig vorkam. Sobald sich kleinere Ansammlungen bildeten, schossen sie auf Unbewaffnete.

«Es war ein schreckliches Gefühl, auf die Straße zu gehen. Du wusstest nie, wann sie wieder aus ihren Verstecken schießen würden. Mit ihrer bedrohlichen Unberechenbarkeit haben sie das ganze Volk terrorisiert», sagt uns eine betroffene Frau in Managua, der Hauptstadt von Nicaragua. «Doch wir mussten ja hin und wieder auf die Straße, um wenigstens etwas Essen zu kaufen.»

«Besonders schlimm waren die willkürlichen Festnahmen. Diese geschahen hauptsächlich während der Nacht. Vor Angst konnten wir über Monate kaum ein Auge zu tun», erzählt ein junger Mann.

Blutiger Muttertag

Eine ältere Frau erzählt uns vom allerschlimmsten Ereignis, das sie erlebt hat: Am Muttertag, dem 30. Mai 2018, gingen Mütter der verwundeten, verschleppten und getöteten Söhne und Töchter auf die Straße und demonstrierten friedlich gegen die unbeschreibliche Gewalt der Regierung. Innert kürzester Zeit schlossen sich Hunderttausende den Müttern an. Plötzlich begannen Schüsse zu fallen, die Demonstrierenden rannten panikartig auseinander, es herrschte Chaos. Die traurige Bilanz dieser Hetzjagd: über 200 Verwundete, 16 Tote. Ein Schock.

Wer Verwundete pflegt, gilt als Terrorist

Im Juli 2018 verabschiedete das von Ortega kontrollierte Parlament ein neues Gesetz, auf dessen Grundlage als Terrorist verhaftet werden kann, wer Regierungsgegnern hilft. Damit gerieten selbst Ärzte und Krankenpflegepersonal in eine schwierige Situation. Einige wurden von der Polizei verschleppt, einige getötet. Unzählige verloren ihre Arbeitsstelle, viele flüchteten.

Da die Verwundeten in den öffentlichen Spitälern nicht mehr behandelt werden durften, richteten Kirchen einfache Notfallkliniken ein. Dadurch kamen auch die Christen unter Generalverdacht. Geistliche werden verbal und körperlich angegriffen und bedroht. Viele mussten ins Ausland flüchten. «Wir leben in ständiger Angst, dass Polizisten uns verschleppen oder töten, weil wir Demonstranten geholfen haben und nun auch zu den Regierungsgegnern gezählt werden», erzählt uns ein Pfarrer.

Schutzsuchende in Kirche eingekesselt

Am 8. Juli 2018 umstellten Paramilitärs die Stadt Diriamba, wo die Bevölkerung zu ihrer eigenen Sicherheit Straßensperren aufgebaut hatte. Die Paramilitärs eröffneten am frühen Morgen um sechs Uhr das Feuer und schossen wahllos in die Menschenmenge. Ein heilloses Durcheinander entstand, viele flohen, andere versuchten dem Angriff standzuhalten und warfen selbstgebastelte Zündkörper. Waffen waren keine vorhanden.

Als die Geistlichen der nahegelegenen Basilika San Sebastián die Schüsse hörten, rannten sie auf die Straße und begannen unter Lebensgefahr Verletzte in die Kirche zu tragen. Zur gleichen Zeit suchten immer mehr Leute Zuflucht in der Kirche, so dass sie innerhalb kurzer Zeit überfüllt war. Irgendwann fiel der Strom aus, so dass alle im Dunkeln ausharren mussten. Die Angreifer umstellten die Kirche und schoss auf jeden, der sie verlassen wollte.

Am nächsten Morgen kamen hochrangige Kirchenvertreter, um mit den Bewaffneten zu verhandeln, damit die Eingesperrten – unter ihnen Schwerverletzte – die Kirche endlich verlassen könnten. Während den zähen Verhandlungen auf offener Straße wurden die Kirchenvertreter beschimpft und geschlagen. Am Ende durften die Eingesperrten die Kirche unbehelligt verlassen. Doch für sechs Schwerverletzte kam jegliche Hilfe zu spät: Sie erlagen in der Nacht ihren Verletzungen, weil ihnen ärztliche Hilfe verweigert wurde.

Trügerische Ruhe

Mehrere unabhängige Medienhäuser wurden geschlossen. Tausende, vor allem junge Leute, Journalisten, Politiker, Ärzte, Unternehmer und Geistliche, verweilen weiterhin im Ausland. Tausende werden vermisst oder leben unter misslichsten Umständen im Gefängnis, wo sie oft auch grausame Folter ertragen müssen.

Paramilitärs und Spitzel sind weiterhin omnipräsent und versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Überall herrscht Misstrauen. «Es ist zwar etwas Ruhe eingekehrt, doch die Ruhe ist trügerisch. Die Gewalt kann jederzeit wieder aufflammen», befürchten mehrere unserer Gesprächspartner. «Wir sind gebrochen, die Freude in diesem Land ist verschwunden.»

Dringend benötigte Hilfe

«Das Dringendste, was wir brauchen, sind Lebensmittel und Medikamente», berichten uns zahlreiche Menschen vor Ort übereinstimmend. Die Preise für Lebensmittel, Medikamente und Benzin sind um ein Vielfaches gestiegen. Arbeitsmöglichkeiten gibt es kaum mehr. Diese Entwicklungen verschlimmern die Lebensumstände der Bevölkerung massiv, zählte Nicaragua doch schon bisher zu den ärmsten Ländern in der Region. Eine Besserung der Lage ist leider nicht in Sicht.

Doña Cristina* ist eine der unzähligen Betroffenen. Sie wohnt zusammen mit fünf Enkelkindern in einem Slumgebiet der Hauptstadt Managua. Ihr Zuhause ist ein düsterer und feuchter Bretterverschlag. Als Haushaltshilfe konnte Doña Cristina sich und ihre Enkelkinder gerade über Wasser halten. Doch zu ihrem großen Leidwesen mussten ihre Arbeitgeber – wie Tausende andere – aus dem Land flüchten. Sie hat nun überhaupt keine Einnahmequelle mehr. Hinzu kommt, dass sie seit einem Unfall verletzt und dringend auf Medikamente angewiesen ist. Zur Sorge um ihre eigene Gesundheit kommt die Angst um ihre Enkelkinder und um die Zukunft.

CSI ist auf zusätzliche Spenden angewiesen, um die Hilfe für Nicaragua aufzustocken. Wir möchten die bereits bestehende Essensausgabe an Kinder und ältere Leute ausweiten. Zusätzlich möchten wir die monatliche Verteilung von Lebensmittelpaketen an verarmte Familien ausbauen und die medizinische Hilfe verstärken. Bisher unterstützt CSI finanziell einen Arzt, einen Zahnarzt und eine Apotheke in einem Slumgebiet. Viele Menschen sind dringend auf überlebenswichtige Medikamente angewiesen. Wir danken Ihnen herzlich für Ihre wertvolle Unterstützung. 

 

Aus Sicherheitsgründen bleiben alle unsere Gesprächspartner anonym.

Hier können Sie für die notleidenden Menschen in Nicaragua spenden.

 

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Die Haltung der katholischen Bischofskonferenz

Im mehrheitlich katholischen Nicaragua spielt die katholische Kirche eine wichtige Rolle. Die letzte offizielle Erklärung der Katholischen Bischofskonferenz von Nicaragua auf ihrer Website ist ein Pastoralschreiben vom 14. Juli 2018. Die Bischöfe stellen sich darin als Vermittler zwischen Regierung und Opposition zur Verfügung. Gleichzeitig würden sie fortfahren, das Leben der Wehrlosen zu verteidigen und sich um die Opfer zu kümmern, wozu sie als Hirten verpflichtet seien. Dies sei kein Widerspruch: In beiden Rollen setzten sie sich für Frieden und Gerechtigkeit für die Nicaraguaner ein.

Die Bischöfe kritisieren die Menschenrechtsverletzungen und mangelnde Verhandlungsbereitschaft der Regierung. Sie erinnern daran, dass es gemäß Verfassung die Pflicht der Regierung sei, «das Leben der Nicaraguaner zu schützen und zu respektieren, darunter auch das Leben derjenigen, die friedlich protestieren». Mit einem Fastentag fordern sie ausdrücklich zum friedlichen Widerstand auf:

«Dieser Tag wird ein Aufruf an alle Nicaraguaner sein. Er richtet sich insbesondere an die Polizei, das Militär und andere öffentliche Bedienstete und all jene, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, weiterhin alle Handlungen der Regierung oder der Regierungspartei direkt oder indirekt zu unterstützen. (…) Wir erinnern daran, dass niemand moralisch verpflichtet werden kann, einen Befehl auszuführen, der gegen die zehn Gebote Gottes verstößt, insbesondere gegen das Gebot ‹Du sollst nicht töten›.»

Im März 2019 lehnte die Katholische Bischofskonferenz von Nicaragua eine Anfrage von Regierung und Opposition ab, an einer weiteren Verhandlungsrunde teilzunehmen. Teilnehmen wird jedoch der Apostolische Nuntius, Erzbischof Waldemar Stanislaw Sommertag. Seinen Kritikern entgegnete der Erzbischof (gemäß Fides): «Ich bin nicht neutral, denn ich kann angesichts des Leidens eines Volkes nicht neutral bleiben. Aber ich bin unparteiisch.»

www.cen-nicaragua.org

 

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