15. August 2016

Vier Monate gefangen in der Höhle des Bösen

Die fünffache Mutter Mary Daniel wird von den Boko-Haram-Extremisten überfallen. Sie muss zusehen, wie diese ihren Sohn töten. Mary widersteht der Versuchung, aus Angst zum Islam zu konvertieren. Nach viermonatiger Gefangenschaft gelingen ihr und ihren über- lebenden Kindern die Flucht. Sie berichtet:

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«Unser Leidensweg begann im August 2014, als Boko Haram unser Dorf Bazza im Bundesstaat Adamawa überfiel. Meine Familie konnte rechtzeitig in die Berge fliehen und strandete in Tilijo. Dort blieben wir für einige Zeit und fühlten uns auch sicher. Doch da es in diesem Dorf keine Babymilch gab und ich mein jüngstes Kind nicht stillen konnte, mussten wir weiterziehen. Wir liessen uns in Mussa, meinem Heimatort in Borno, nieder. Mein Mann musste uns jedoch vorübergehend verlassen, weil er in Yola noch als Lehrer arbeitete.

Nach der abscheulichen Tat brach sie zusammen

Die schlimmen Ereignisse vom 2. Dezember 2014 waren ein tiefer Einschnitt in unserem Leben: Boko-Haram-Terroristen drangen ins Dorf ein. Wir flüchteten nach Lassa. Noch am selben Abend wurde aber auch dieses Dorf von den Extremisten überfallen. Ich versteckte meinen ältesten Sohn in der Toilette. Doch die Islamisten stürmten unser Haus und fanden uns alle. Ich musste mich mit meinen vier jüngeren Kindern in einer Reihe hinstellen. Vor unseren Augen schnitten sie die Kehle meines ältesten Sohns durch. Ich erlitt einen Weinkrampf. Die erbarmungslosen Terroristen schrien mich an, sofort still zu sein. Sie zwangen mich, mich hinzulegen, da sie nun auch mich abschlachten würden. Doch sie taten mir nichts an.

Während ich trauerte und weinte, wurden wir Frauen und Kinder in einen Lastwagen hineingepfercht und nach Madagali gebracht. Als wir ausstiegen, bat ich die Entführer, mich nach Hause zu bringen, damit ich meinen Sohn begraben könne. Doch sie gingen nicht darauf ein. Nach einigen Tagen teilten sie uns mit, dass jene, die zum Islam konvertieren möchten, sich auf die Seite stellen sollten. Von den 46 Gefangenen war ich mit meinen Kindern und vier weiteren Mädchen die Einzige, die sich dem Bekehrungsversuch widersetzte. Den Konvertiten gaben sie gleich etwas zu essen. Wir erhielten zunächst nichts.

Missglückter Fluchtversuch

Etwa einen Monat waren wir in einem Haus eingesperrt. Da hörte ich eines Abends, wie die Dschihadisten darüber sprachen, die jungen Mädchen und Frauen zu verheiraten. Sogleich teilte ich die schockierende Absicht den vier Mädchen mit und überzeugte sie, mich beim Fluchtplan zu unterstützen. Doch eine andere Frau, die zum Islam konvertiert war und uns hörte, verriet unseren Plan. Ich wurde von den Boko-Haram-Extremisten übel zugerichtet. Sie fesselten mich an den Händen und Füssen und sperrten mich in einen separaten Raum ein.

Drei Wochen lang war ich in dem dunklen Gemach eingesperrt, ohne etwas zu essen. Dann öffnete ein Jugendlicher die Tür, um nachzusehen, ob ich tot war. Er war erstaunt, dass ich noch lebte. Der Junge verspürte Mitleid und band mich los. Er warnte mich, keinen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen. Ich war sehr dankbar und versprach ihm, es sein zu lassen.

Die Odyssee im Sambisa-Wald

Im Februar 2015 lancierte die Armee eine Offensive und befreite etliche Dörfer. Als die Extremisten erfuhren, dass die Armee auf Madagali heranrückte, verschleppten sie uns in den Sambisa-Wald. Dieser Dschungel ist riesig und sehr dicht. Wir wurden in eine Grashütte, eine «Zanna», eingesperrt. Ich erkannte sofort, dass hier eine Flucht gut möglich war. So ermutigte ich die vier Mädchen, mit uns baldmöglichst zu fliehen, da wir eigentlich nur von hohem Gras und Büschen umgeben waren. Zwei der Mädchen waren zu verängstigt, um es zu versuchen. Sie hatten miterlebt, wie ich beim ersten Fluchtversuch zusammengeschlagen wurde. Doch die anderen zwei waren bereit, es mit uns zu wagen.

Die günstige Gelegenheit für die Flucht kam, als sich die Boko-Haram-Leute von uns entfernt hatten, um gegen die Armee zu kämpfen. Die Dschihadisten liessen einzig einen etwa 15-jährigen Knaben zurück, der uns überwachen sollte. Als der Junge – wohl vor Erschöpfung – eingeschlafen war, machten wir uns davon. Ich floh mit meinen vier Kindern. Die beiden Mädchen schlugen eine andere Richtung ein.

Von der Armee gerettet

Wir wussten natürlich, dass wir jederzeit entdeckt werden konnten. Vor allem aber fehlte uns jegliche Orientierung, um aus dem dichten Wald herauszufinden und in ein Dorf zu gelangen. Meine einzige Orientierungshilfe war es, zu beobachten, von wo die über uns fliegenden Kampfjets herkamen. Ich nahm an, dass sich mein Heimatdorf in jener Richtung befinden musste.

Fünf Tage und Nächte irrten wir ununterbrochen durch den Wald. Um in dieser Zeit nicht zu verhungern, beobachtete ich die Vögel und fand so deren Brutplätze. Das half uns, Waldbeeren und Wasserstellen zu finden. Nach der kräfteraubenden Odyssee sah ich Männer in der Armee-Uniform. Ich hatte keine Angst, als sie mir befahlen, anzuhalten. Ich hob nur noch die Hände und kniete nieder. Die Soldaten behandelten uns fürsorglich, nachdem ich ihnen über unser Schicksal berichtet hatte. Wir wurden medizinisch versorgt und verpflegt.

Ich war erleichtert und bat das Militär, uns in mein Heimatdorf Mussa zu bringen, das mittlerweile durch die Armee befreit worden war. Am 25. März 2015 wurde ich mit meinen vier Kindern in mein Dorf zurückgeführt. Die Soldaten gaben uns noch etwas Geld und Lebensmittel.

Trotz der Tötung meines Sohnes bin ich Gott unendlich dankbar, dass er mich und meine vier jüngeren Kinder gerettet hat. Langsam, aber sicher kehrt Normalität in unser Leben zurück. Ich bin auch glücklich, dass mein Mann als mittlerweile pensionierter Lehrer nun bei mir ist. Nach all den erlebten Schicksalsschlägen blicken wir hoffnungsvoll in die Zukunft.»

Reto Baliarda

Weiterer Bericht:
Bedrohung durch die Fulani-Extremisten wird oft verschwiegen


Familie erhält Hilfe

CSI unterstützt überlebende Terroropfer wie Mary Daniel und deren Kinder. Sie werden medizinisch betreut und erhalten Lebensmittel. Die Kinder werden bei Bedarf unterstützt, damit sie die Schule besuchen können. Um den Opfern vor Ort helfen zu können, arbeitet CSI unter anderem mit der katholischen Diözese von Maiduguri zusammen.

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