25. April 2017

Im Visier des Hindu-Nationalismus

Der politische Hindu-Nationalismus nimmt zusehends überhand. Nicht zuletzt durch die Absicht der Regierungspartei, Indien bis 2021 zu einem rein hinduistischen Land zu formen, geraten Minderheiten wie Christen und Muslime stärker unter Druck.

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Indiens Wirtschaft hat an Dynamik zugelegt. Das Wachstum lag 2015 / 2016 bei 7,6 Prozent. Indien zählt damit zu den am stärksten expandierenden Volkswirtschaften der Welt. Weit mehr Anlass zur Sorge bereitet hingegen, dass religiöse Minderheiten immer mehr unter Druck geraten, Wirtschaftswachstum hin oder her.

Zwar scheint sich die Bedrohungslage für die Christen in Indien auf den ersten Blick gebessert zu haben: Seit dem Massaker vom 2008 in Kandhamal, bei dem 100 Christen umgebracht wurden, ist es bis heute nicht mehr zu einer tödlichen Attacke auf Christen in diesem Ausma gekommen. «Doch es brodelt unter der Oberfläche», meint Anwältin Arora. Ihr Team von Juristen unterstützt in Zusammenarbeit mit CSI in ganz Indien christliche Gemeinschaften, die von Hindu-Mobs angegriffen wurden. «Viele Christen leben in ständiger Angst vor einem Übergriff», bemerkt sie.

Schwere Übergriffe jederzeit möglich

Und dass die Übergriffe von Hindu-Nationalisten auf Christen keine Seltenheit sind, zeigt beispielsweise ein Blick auf die Website speakoutagainsthate.org, auf die Arora verweist. Die Seite meldet fürs vergangene Jahr 219 Überfälle auf Christen. 123 mal wurde dabei Gewalt angewendet. Und während beispielsweise im Bundesstaat Odisha mit dem Distrikt Kandhamal 2016 nur wenige Übergriffe auf Christen stattfanden, ist in anderen Bundesstaaten die Zahl sprunghaft angestiegen, vor allem in Chhattisgarh.

Zwar hatten diese Übergriffe nur vereinzelt tödliche Folgen. Doch Arora mahnt, dass sich ein Massaker wie in Kandhamal jederzeit irgendwo in Indien wiederholen könne. Das Eis sei sehr dünn: «Schon ein scheinbar unbedeutender Vorfall, bei dem z.B. ein Christ beim Cricketspiel aus Versehen den Kopf eines Hindus trifft, kann zu einem Gewaltausbruch führen. Auch eine Aussage von Minderheiten gegen den Hinduismus kann tödlich enden», ergänzt sie.

Attackierte Muslime wehren sich

Wie die Christen sind auch andere Minderheiten von der zunehmenden religiösen Propaganda in Indien betroffen, allen voran die Muslime, die gut 14 % der Bevölkerung ausmachen und vor allem im Norden Indiens sowie an der Grenze zu Bangladesch leben. Immer wieder werden sie Opfer von tödlichen Angriffen und werden im Alltag systematisch diskriminiert. Gleichwohl setzen sich Muslime in Indien bei einem Übergriff auch schon mal mit Gewalt zur Wehr, im Gegensatz zu den Christen.

Eines der schlimmsten Ereignisse der letzten Jahre, bei dem Hindus und Muslime aneinander gerieten, sind die Unruhen von Muzaffarnagar im Bundesstaat Uttar Pradesch. Bei diesem Massaker von Anfang September 2013 wurden 42 Muslime und 20 Hindus getötet. Mehr als 50 000 Menschen wurden vertrieben. Um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen, musste die Armee mobilisiert werden, die eine zweiwöchige Ausgangssperre verhängte.

2015 fanden gemäss «Times of India» 751 religiös motivierte Übergriffe mit 97 Todesopfern statt. Arora bemerkt, dass in den meisten Fällen Hindus die Täter und Muslime die Opfer waren.

Irrationale Ängste schüren

Ressentiments gegen Minderheiten werden in Indien zum Teil systematisch angeheizt. So berichtet die Anwältin, dass viele Agenturen in der Öffentlichkeit die Angst schüren, Hindus könnten in Indien eines Tages in der Minderheit sein. «Diese Angst ist absolut irrational, selbst wenn der Anteil der Hindus bei uns in den letzten Jahren leicht gesunken ist. Bei einem Hindu-Anteil von 80 Prozent fällt diese Abnahme kaum ins Gewicht.»

Dennoch gelingt es den Meinungsmachern, allen voran den gros­sen Medien, mit solchen Szenarien Öl ins Feuer zu giessen. Dies dient auch den Zielen der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP), die den Hindu-Nationalismus (Hindutva) vorantreibt und die gros­sen Medien stark beeinflusst. Nach dem Willen der BJP soll Indien bis im Jahr 2021 zu 100 % hinduistisch sein.

Doch müssen solche exzessive Forderungen ernst genommen werden? «Ja!» meint Arora. Es gäbe in vielen Bereichen Bestrebungen, diese hinduistische Vision umzusetzen. So soll das Antikonver­sionsgesetz in Indien vorangetrieben werden. In der Theorie sollte das Gesetz Bekehrungen unter Zwang vermeiden. Doch in der Praxis wird es häufig dafür missbraucht, Hindus von der Konversion zu einem anderen Glauben abzuhalten.

Hilfswerke ebenso von Hindutva betroffen

Auch werden internationalen Hilfsorganisationen bei der Durchführung von Hilfsprojekten immer mehr Steine in den Weg gelegt. Erst kürzlich wurden die christlichen Hilfsorganisationen Compassion und Tearfund gezwungen, in Indien ihre Arbeit für Kinder in Not aufzugeben. Dies, weil sie, wie viele andere Nichtregierungsorganisationen, keine Spenden mehr überweisen können. Letztes Jahr verweigerte die Regierung Mitgliedern der Amerikanischen Kommission für Internationale Religionsfreiheit (USCIRF) das Einreisevisum.

Die Hindutva wird auch durch die RSS, eine radikal-hinduistische Kaderorganisation, die der BJP nahe steht, vorangetrieben. Nebst den Medien werden auch der Sicherheitsapparat, die Justiz sowie auch Universitäten und Schulen von der RSS unterwandert.

Doch die Hindutva greift auch schon ins Leben von Kindern ein. «In vielen Schulen sind heute Yoga (in Indien wird dabei der religiöse Hintergrund stark betont) und Sanskrit, die altindische, hinduistische Sprache, obligatorisch», nennt Arora zwei weitere Beispiele. Handkehrum werden immer mehr nicht-hinduistische Kinderheime geschlossen.

 

Reto Baliarda

 

 


 

Andere Minderheiten

Sowohl die Sikhs als auch die Buddhisten gelten, so Arora, als eine Erweiterung der hinduistischen Familie und werden heute grundsätzlich nicht mehr verfolgt. Im Unterschied zu den traditionellen Hindus lehnen die Sikhs das Kastensystem ab. Noch in den Achtzigerjahren kämpften sie für ein eigenes Land, das den Bundesstaat Punjab umfasst hätte. 1984 brachten Sikh-Bodyguards die Premierministerin Indira Gandhi um. In den darauf folgenden Tagen wurden rund 3000 Sikhs getötet. Etwa 100 000 flohen von Delhi nach Punjab.

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